Unterwegs: Matchday in der Premiere League

von Fritz Rainer Polter

Seit 1977, als der Titel „Match oft the day“ von Genesis erschien, ist es mein Traum, ein solches in England zu besuchen, und heute ist es endlich soweit. Das match oft the day heute in Liverpool bestreitet der hiesige Everton FC gegen West Ham United aus dem fernen London. Kloppo‘s Liverpool FC muss am folgenden Tag zu Manchester United. Eine Überlegung war es mir zwar wert, aber ich verzichte darauf, mir im Internet eine Karte für über 250,- Pounds zu besorgen – die Reisekosten kämen da auch noch drauf. Gehe ich halt zu Everton; die Beatles, wegen der ich hauptsächlich hier vor Ort bin, waren sowieso eher Everton Supporter, heißt es. Nun gut, so gegen Ende der 70er Jahre hat Paul McCartney eingestanden, nun doch eher zum FC Liverpool zu tendieren; ähnlich wie zu gleichen Zeit ein gewisser Frank Schöbel sich zu Lok Leipzig wechselte, und Chemie im Stich ließ. Ob jemals einer der Beatles in einem der beiden Stadien war, bliebe noch zu untersuchen. Eher nicht, heißt es in informierten Kreisen. Kein Verein hat länger in der Premier League gespielt als der 1878 gegründete Everton FC, doch die ganz große Zeit ist lange vorbei; der FA-Cup-Sieg aus dem Jahr 1995 ist bis heute der letzte große Erfolg des Vereins. Aber auf der Insel ist er, schon allein wegen der Tradition, immer noch eine der größten Nummern überhaupt.

HL IMG 1808The Anfield Road - Copyright by Fritz Rainer Polter

Ich habe mir keine Karte im Internet und im Vorfeld besorgt, sondern beschließe am Morgen des Matchtags einfach, spontan vom berühmten, Albert Dock im Hafen loszulaufen. Ein echter Mann reist ohne Smartphone, und läuft gefälligst auch zum Stadion – old school. Aber mein Stadtplan ist sehr ungenau, wie ich immer wieder zu meinem Leidwesen erfahre. Im Nachhinein stelle ich fest, dass es die beste Lösung gewesen wäre, vom Stadtzentrum aus die Pall Mall nach Everton zu laufen. Doch ich will so lange als möglich am Wasser, am Hafen, an den Docks entlang. Ich plane dafür 2 Stunden Anmarsch ein. Mit der Zielstrebigkeit ist es aber bereits nach kurzer Strecke Essig: Entweder werden die bereits dicht auf die touristisch verwerteten Docks folgenden Anlagen industriell genutzt, oder die Anlagen werden gerade neu bebaut. So gerät mein Plan sehr früh ins Schwanken, und ich muss immer abenteuerlichen Fernverkehrsstraßen folgen, welche auf ihren ganz engen Randwegen für Fußgänger strikt verboten sind. Ich laufe trotzdem los, frage mich jedoch allmählich, ob ich jemals wieder vor Edinburgh irgendwo hinaufkomme. Ganz schmal ist hier der Bordstein, den man für Wartungsarbeiten belassen hat. Selbstredend darf man ihn auch nicht betreten.
;jsessionid=F59C7967B17B23131765E09A8AAE4632 n2.bap42aIch folge der A 5053 durch den Kingsway Tunnel und werde dann abgedrängt durch den Straßenverlauf, laufe lange in die komplett verkehrte Richtung, bevor ich wieder auf die Scotland Road gelange. Dort treffe ich auf 3 andere Wanderer, die von ihrer Kleidung her eindeutig Fußballfans sind. Ich sage hallo, und frage, ob sie einen Plan haben, wie sie zum Stadion gelangen; und falls ja, ob ich mitlaufen dürfe. Sie sind zunächst sehr zurückhaltend und schweigsam – kein Wunder, denke ich, denn es sind weinrot gekleidete „away fans“, also jenen, die von auswärts anreisen. Ein Leitwolf in meinem Alter, und 2 Jungspunde. Schwarze Hammer auf weinroten Shirts, „Hammers,“; also West Ham United Fans aus London. Warum die sich wohl den Fußmarsch vom Stadtzentrum aus antun? Mit 3 Tagestickets zu je 3,50 Pounds wären die doch gut dabei. Bei mir ist es etwas Anderes; ich habe Urlaub, will etwas von der Stadt sehen und erfahren. Darum laufe ich gerne.

IMG 1838 City   Mathew Street   Fußball Pub
So nach und nach kommen wir ins Gespräch, während wir in einer riesigen Wendeschleife die Auffahrt auf die Scotland Road entlanglaufen, immer wieder wütend angehupt, - ob unseres nicht ungefährlichen Vergehens, - von so manchen Autofahrern. Wir können nur hoffen, dass uns keine Polente einkassiert. Nach einem beinah halbstündigen Marsch biegen wir, natürlich ohne zu blinken, ab auf die Everton Valley. Hier sieht es ein wenig Gewerbe-mäßiger an den Straßenrändern aus. Überhaupt, es gibt wieder Straßenränder, statt Betonwände. Uns hilft auch gleich die Müllabfuhr, die dort zu Gange ist, über Schleichwege abzukürzen. Donnerwetter, die Kerle in ihren West-Londoner Farben haben keine Angst vor möglichen Everton Hools, denke ich die ganze Zeit. Aber alles ist relaxt: die Müllmänner freuen sich eher, helfen zu können. In England hat sich momentan alles optimal entspannt, erklärt mir der Leitwolf. Nirgendwo gibt es mehr Ärger, alle können ohne Bedenken in ihren Farben anreisen, durch die Straßen des Gegners-, selbst durch die der jeweiligen Ortsrivalen gehen. Deftige Wechselgesänge, Frotzeleien, okay, na klar gibt es die. Aber um „gerupft“ zu werden bedürfe es schon sehr vieler Zufälle. Wir überqueren die Straße, die wir eben an den Wänden entlang geschlichen sind, über eine Brücke. Verrückt, denke ich, als ich den selbstmörderischen Wahnsinn von oben sehe.

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Schließlich gelangen wir auf die Walton Lane, von der sich dann auch die berühmte Anfield Road abspaltet. In der Ferne kann ich das Stadion, in welchem Kloppo jetzt regiert, schon erkennen, und beschließe, nach dem Everton-Match unbedingt dorthin zu laufen. Die Roten und die Blauen liegen halt sehr eng zusammen, aber auch das führt hier nicht zu Problemen. Der FC Liverpool und der Everton FC sind ja beinah ein- und derselbe Club; Everton ist halt in den 1890er Jahren infolge einer Mieterhöhung für Anfield in den Goodison Park gezogen, und die, welche zurückgeblieben sind, haben den FC Liverpool gegründet. Die Rivalität ist vorhanden, hält sich aber in Grenzen. Natürlich fragen die „Hammers“ mich aus, woher ich komme, auf wen ich halte, und so weiter. Fast alle hier erraten, dass ich Deutscher bin; nicht etwa, weil mein Englisch schlecht wäre, sondern weil beinah jeder, mit dem ich mich hier in Liverpool näher unterhalte, eine deutsche Frau in seinem Umfeld hat. Ich erzähle von Lok und Chemie Leipzig, und dem abgrundtiefen Hass zwischen den Ultras beider Vereine. Nicht einer der Menschen, mit denen ich hier spreche, versteht das auch nur ansatzweise. Man möge Millwall nicht; und auch die von Tottenham sind jetzt nicht gerade unsere Freunde, meint der Leitwolf. Aber Prügeleien? Das alles war einmal, wie wir ja alle noch wissen. Aber es scheint endgültig vorbei zu sein, man lässt sich jetzt einfach in Ruhe. Natürlich geraten wir nun tief in den Strom der blauen Fans, der Toffees, wie sie genannt werden; aber ein jeder lässt die roten Hammers, von denen ich mich hier verabschiede, ungestört zu den Eingängen für Gästefans gelangen.

HL IMG 1513 Goodidon ParkVor dem Goodison Park steht seit 2001 „Dixie“ Dean, eine der Everton-Legenden, als Denkmal für die Ewigkeit, in Lebensgröße gegossen, und mit blauen und weißen Blumen frisch geschmückt. „Footballer, Gentleman, Evertonian“ – dies ist auf dem Sockel eingraviert. „Dixie“ hieß eigentlich William Ralph mit Vornamen, und er gilt als einer der berühmtesten Fußballer auf der Insel; spielte in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts für den Everton FC. Zur Legende trug auch bei, dass er nach einem harten Tackling eines Gegenspielers vom Altrincham FC einen Hoden verlor. Als er sich die Intimzone vor Schmerz rieb, meinte der Gegenspieler: „Reib sie nicht, zähl sie lieber!“. Allein in der Saison 1927/28 erzielte der Angreifer 60 Tore, und der Everton FC errang die Meisterschaft. Um zwei Jahre darauf abzusteigen. Zur Hölle mit Churchill, zur Hölle mit Dixie Dean! – so schrie einmal ein italienischer Kriegsgefangener im Zweiten Weltkrieg, als er sich den Briten ergeben musste.

IMG 003 Legenden und Fans of today vor dem Goodison ParkVor den zahlreichen Pubs stehen, wie ich es erwartet habe, hunderte Everton-Supporter in den Straßen, und diskutieren. Alles ist friedlich. Ich frage mich durch zu den Hauptkassen, und dort kann ich noch eines der letzten freien Tickets für stolze 49,- Pfund ergattern, Kategorie M, das bedeutet „Main Stand“, also Haupttribüne, Reihe AA, also recht weit oben. Endlich bin ich drin, ein typisch englisches Fußballstadion, also ohne Laufbahn und anderen Schnickschnack. Hier gibt man sich, - ich dachte es mir schon so,- natürlich nicht das berühmte „You’ll never walk alone“ des Ortsrivalen; einen Song, den Gerry an den Pacemakers 1963 berühmt gemacht haben; sondern unter anderem die Melodie „Theme From Z-Cars“, welches mir in einer Version von John Keating aus dem Jahr 1962 bekannt ist. Der von Fritz Spiegl komponierte Song stammt entstammt der langlebigen, gleichnamigen Polizei-TV-Serie der BBC und basiert auf dem Liverpooler Volkslied „Johnny Todd“, dessen auch Bob Dylan bei seinen Basement Tapes 1967 gedachte. Neil Young machte daraus „Love is a rose“; überließ den Song zunächst Linda Ronstadt, und veröffentlichte ihn dann auf seinem ewigen Meisterwerk „Decade“ 1977.

HL IMG 1810 AnfieldDer Anstoß erfolgt exakt um 13.30 Uhr vor 39.000 Zuschauern. Schiedsrichter ist Paul Tierney.
Den Everton FC trainiert aktuell Marco Silva, die prominente Randerscheinung bei den Hammers ist
Manuel Pellegrini. Vor dem Anpfiff stehen die Toffees in der Tabelle der Premier League auf dem 15. 
Platz 15; die Hammers belegen Platz 11. Davon merkt man im Spiel nichts; Everton, der Underdog, macht das Spiel und ist in allen Belangen überlegen. Nur ihrem guten Torhüter haben es die Hammers zu verdanken, dass sie nicht schon zur Pause 3:0 zurückliegen. Immer wieder werden sie von den Toffees ins Abseits gestellt. Das 1:0 fällt durch den Linksverteidiger Bernard (Brasilien) in der 17. Minute. Alle Fans der blauen springen auf wie irre, wie ich es mir von England dachte. Ich springe nicht, ich war privilegiert wie alle in den jeweils letzten Reihen, und stehe hinter meinem Sitz. Die Stimmung ist fair, ein wenig zu fair vielleicht; und auch ein wenig enttäuschend, bei Chemie Leipzig ist, bemessen an den unterschiedlichen Zuschauerzahlen natürlich, mehr los. Über weite Strecken ist es ruhig, aber bei den Kontern und Standards ist die Kulisse voll da. Die Auswärts-Fans machen beinah mehr Stimmung als die Toffees. Everton ist in allen Belangen über die gesamte Spielzeit deutlich überlegen, macht aber den Sack lange nicht zu. Das 2:0 fällt dann auch erst in der 92. Minute durch den in der 87. Minute eingewechselten Mittelfeldspieler Gylfi Sigurdsson.

Nach dem Match laufe ich noch ein wenig um das Stadion. Hinter dem Goodison Park steht gleich die methodistische St. Lukas Kirche, das spirituelle Zentrum des FC Everton. Und davor gibt es seit Mai 2019 ein weiteres Denkmal von Tom Murphy (auch „Dixie Dean ist von ihm) für die blauen Toffees: Die heilige Dreifaltigkeit der Ikonen Howard Kendall, Coling Harvey and Alan Ball – das heilige Mittelfeldtrio, praktisch eine Entsprechung zum magischen Dreieck des VfB Stuttgart in den 90er Jahren. Während Ball sich für die damals Rekord-verdächtige Summe von 220.000 Pfund abwerben ließ, wurde Harvey später zum Manager und er nahm sich Kendall zum Assistenten. Everton, so erklärt man mir; dass sind die methodistischen und sonstigen Katholiken; die Iren, Schotten, Waliser, und zahlreiche Skandinavier, die zu den Heimspielen anreisen.

Dann laufe ich durch den idyllischen Stanley Park, der die beiden Stadien trennt, rüber zur Anfield Road, wo vor dem Eingang zur berühmten „The Kop“ – Tribüne natürlich Bill Shankly, der ikonische Spieler aus den 80er Jahren, als Denkmal steht. Hier in Anfield blühen sogar die Bäume rot. Auf eine Führung durch das Stadion für 25,- Pfund verzichte ich – die eindrucksvolle Kulisse imponiert mir auch so. Am nächsten Tag suche ich das ehemalige Wohnhaus von John Lennons Mutter Julia in der Blomefield Road 1 in Allerton auf. Danach geht’s zu Fuß auf den Allerton Cemetary, den riesigen Ortsfriedhof, auf dem ich vor 2 Tagen spätabends im mörderischen Regen schon einmal war und resignieren musste in meinem Bestreben, dass Grab von Julia Lennon zu finden. Es gibt 8 große Sektionen, aber man erkennt diese nur an den Nummern auf den Rückseiten der Grabsteine. Das habe ich vorgestern nicht gewusst, heute weiß ich es, heute scheint auch die Sonne. Ich finde das Grab und erweise der tragisch verunglückten Julia meine Referenz. Bereits auf den Weg nach ganz hinten, in die 8. Sektion, sind mir die zahlreichen rot und blau geschmückten Gräber aufgefallen. Nun habe ich den Rücken frei, mir einige davon in aller Ruhe anzuschauen. Auch hier ehrt man den Ortsrivalen, indem man sich nicht an den vielen Fahnen und Schals des Ortsrivalen vergeht. Alles strahlt hier in blau und rot; der FC Liverpool hat sogar eine besondere Abteilung für die Edelfans und Vereinsmitglieder. Man stelle sich das mal in Leipzig vor! Die spinnen, die Briten! Oder doch eher wir?

Copyright by Fritz Rainer Polter

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