"Man sollte jedenfalls nicht unbedingt auf ein positives Mitteilungsmotiv aufseiten des Whistleblowers abstellen."

Interview mit Dr. Felix Kühnle vom Institut für Sportwissenschaften der Technischen Universität Darmstadt zu seiner Studie über die Motive von Whistleblowern im Sport. Co-Autoren der Arbeit waren: Larissa Thais Reich, Jochen Mayer und Marcel Reinold. Das Interview wurde am 30. September 2025 schriftlich geführt. 

Wie kam es zu Ihrer Studie?

Gemeinsam mit Kollegen der Arctic University of Norway (Prof. Marcel Reinold) und PH Schwäbisch Gmünd (Prof. Jochen Mayer) ist uns aufgefallen, dass die großen Dopingskandale der letzten Jahre nicht durch die Dopinganalytik im Labor aufgedeckt wurden, sondern durch Whistleblower. Das gilt unter anderem für den Doping-Skandal rundum Lance Armstrong oder die Enthüllungen über Alberto Salazar und das Nike Oregon Project. Gleichzeitig steckt die Forschung zum Whistleblowing über Doping bis heute in den Kinderschuhen. Man weiß nach wie vor kaum etwas über die Prozesse der Entscheidungsfindung, die Sportler und weitere Sportakteure dazu bringen, ihr Geheim- bzw. Insiderwissen über Doping preiszugeben. Vor allem die sozialen Bedingungen der Whistleblowing-Entscheidung befinden sich weitgehend im blinden Fleck der überwiegend psychologisch ausgerichteten Studien zum Gegenstand. Entsprechend haben wir uns einer soziologischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen gewidmet. Die Möglichkeit hierzu verdanken wir insbesondere auch dem Bundesinstitut für Sportwissenschaft, das die Studie gefördert hat. Als Kooperationspartner aus der Praxis des Anti-Doping-Kampfes hat uns die NADA Deutschland unterstützt.

Sind Sie mit der Studie zufrieden?

Erwartungshaltung, realisierte Gespräche, Schwierigkeiten... In der Forschung geht es ja weniger um die persönliche Zufriedenheit als vielmehr um den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn. Ich kann dennoch sagen, dass ich mit dem Verlauf des Forschungsprojekts und unseren Befunden in mehreren Hinsichten sehr zufrieden bin. Während in der Forschung zum Whistleblowing über Doping bislang meist mit hypothetischen bzw. fiktiven Whistleblowing-Szenarien gearbeitet wurde, konnten wir im Rahmen der „WBS-Studie“ neben mehr als zwanzig Expertengesprächen neun Interviews mit faktischen Whistleblowern führen, die uns zumeist sehr ausführlich über ihre Erfahrungen berichtet haben. Der Aufwand zur Probandengewinnung war hoch, aber es hat sich gelohnt. Derzeit gibt es weltweit keine Studie mit einem vergleichbaren Erfolg bei der Herstellung des Feldzugangs, also bei der Rekrutierung von Whistleblowern für ein Interview. Erst recht können sich auch unsere Forschungsergebnisse sehen lassen.


Welche Motivation 'auszupacken' gibt es bei Whistleblowern? Haben Sie die Motive der Personen überrascht?

Ich habe im Zuge der Interviews spannende Gespräche mit interessanten Menschen geführt, die mir stellenweise durchaus imponiert haben. Soziologisch haben uns aber weniger Persönlichkeitseigenschaften, Wertvorstellungen oder eben die Motive bzw. Gefühlslagen von Whistleblowern interessiert. Vielmehr basiert unsere Forschung auf der Prämisse, dass auch Whistleblower weniger autonom handeln als vielmehr durch ihre sozialen Umstände gehandelt werden. Vor diesem Hintergrund haben wir eine ganze Reihe von Strukturdynamiken und generativen Mechanismen identifiziert, die jenseits der Person ablaufen, bei der Whistleblowing-Entscheidung eine große Rolle spielen und sich jeweils in unterschiedlichen Fällen beobachten lassen. In den Interviews wurde allerdings deutlich, dass sich Whistleblower aus ganz verschiedenen Gründen zur Meldung entscheiden, wobei neben Fairnesskalkülen und Schuldgefühlen auch bittere Enttäuschungserfahrungen und anschließende Rachemotive eine Rolle spielen können. Man sollte jedenfalls nicht unbedingt auf ein positives Mitteilungsmotiv aufseiten des Whistleblowers abstellen.

Was sind die wichtigsten Ergebnisse Ihrer Studie?

Die Ergebnisse der Studie lassen sich kaum in kurze Antworten packen. Vielmehr sind neben unserer jüngsten Veröffentlichung über „Strukturdynamiken von Whistleblowing über Doping im Sport“ weitere Publikationen zu spezifischen Teilfragestellungen in Arbeit. Insgesamt machen unsere Befunde deutlich, wie wichtig feld- und missstandsspezifische Expertise bei der Auseinandersetzung mit Whistleblowing ist. Whistleblowing resultiert nicht selten aus dem systemischen Umgang mit überführten Dopern und geht mit wechselnden Loyalitäten der späteren Whistleblower einher. Während Dopingsünder in der Öffentlichkeit beispielsweise häufig als schwarze Schafe stigmatisiert werden, erhalten sie auf der Hinterbühne ihres dopingassistierenden Milieus oft eine besondere Art von emotionaler Fürsorge oder werden sogar fortwährend bezahlt. Auf solche Weise stellen die Mitwisser und Unterstützer der Devianz das Schweigen überführter Doper sicher. Wird die Sündenbockfunktion der Verurteilten und öffentlich Degradierten hingegen übertrieben oder das Comeback überführter Athleten auch nach Ablaufen ihrer Sperre verhindert, können entstehende Konflikte sehr schnell eskalieren. In dieser Hinsicht ist die sogenannte Omertá, das vielzitierte „Gesetz des Schweigens“ über Doping im Sport, zumindest brüchiger als man gemeinhin annimmt.

Wer kann was mit den Ergebnissen bewirken? Von wem können sie wie umgesetzt werden?

Unsere Befunde sind nicht nur wissenschaftlich neuartig; sie sind zudem hochgradig praxisrelevant. Neben dem investigativen Journalismus, der bereits seit längerem auf die Mitteilungsbereitschaft von Insidern setzt, sind die Ergebnisse unserer Forschung auch für den Anti-Doping-Kampf von Interesse. Zusätzlich zum Dopingkontrollsystem und den verschiedenen Bildungsprogrammen gegen Doping haben sich in den letzten zehn Jahren Intelligence and Investigations und im Zuge dessen gerade die Zusammenarbeit mit Whistleblowern als eine Art dritte Säule der Dopingbekämpfung etabliert. Entsprechend wichtig ist es, Whistleblower zu verstehen und gerade auch die strukturellen Bedingungen und sensiblen Phasen zu kennen, die die Mitteilungsbereitschaft von Insidern im Sport erhöhen. Auch Einschätzungen zur Glaubwürdigkeit von Whistleblowern fallen umso leichter, wenn man die situativen Hintergründe ihrer Meldung berücksichtigt.

Wo gibt es welches Verbesserungspotenzial hinsichtlich der Umsetzbarkeit?

Die WBS-Studie hat sich konkret mit der Frage beschäftigt, vor dem Hintergrund welcher Bedingungen und Mechanismen Whistleblower bereit sind, ihr Wissen über Doping zu teilen und insbesondere jene Akteure einzuweihen, die auf eine Behebung von dopingbezogenen Missständen spezialisiert sind. Wir haben keine Evaluationsstudie konkreter Einrichtungen bzw. Abteilungen von Anti-Doping-Organisationen durchgeführt, die mehr oder weniger erfolgreich mit Whistleblowern kooperieren. Allgemein lässt sich aber festhalten, dass die Herausforderung im Anti-Doping-Kampf der nächsten Jahre darin bestehen wird, die enormen Potenziale der Dopingbekämpfung mittels Whistleblowing voll auszuschöpfen, Experten aus außersportlichen Bereichen der Ermittlungsarbeit effizient im Kampf gegen Doping einzusetzen und die biografischen Risiken für Whistleblower zu minimieren.

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